Verschriftlichung der Spiegel TV Reportage vom 30.08.2022

Manfred Genditzki soll eine alte Dame, um die er sich bis dahin liebevoll gekümmert hatte, getötet haben. Das Gericht ist schnell davon überzeugt, dass Lieselotte Kortüm geschlagen und in der Wanne ertränkt wurde. Obwohl es weder Beweise noch ein Motiv gibt und vieles für einen Unfall spricht, lautet das Urteil »lebenslänglich«

Manfred Genditzki: “Das deutsche Justizsystem (habe ich immer gedacht) ist top in Ordnung. Aber in der ersten Verhandlung, das war schlimm, da hab’ ich gedacht, die Wahrheit interessiert keinen.”

Dass der Fall wieder aufgenommen wird, ist spektakulär und in großen Teilen der Hartnäckigkeit von Strafverteidigerin Regina Rick geschuldet. 

Regina Rick: “Insofern ist es bestimmt ein Paukenschlag. Insgesamt ist dieses Verfahren ein Justizskandal sondersgleichen, schon die Verurteilung damals hätte nicht erfolgen dürfen.”

[Abschnitt über die Tätigkeit Manfred Genditzkis u.a. als Hausmeister und Alltagshelfer für die betagte Lieselotte Kortüm. Beschreibung des sehr positiven und liebevollen Verhältnisses zwischen der alten Dame, Manfred Genditzki und dessen Familie.]

Dann kommt der 28. Oktober 2008, der Tag, der alles ändert. Manfred Genditzki hat Frau Kortüm aus dem Krankenhaus abgeholt und nach Hause gebracht. Er kocht ihr einen Kaffee, unterhält sich ein bisschen und geht um 15:00 Uhr. Dreieinhalb Stunden später findet eine Mitarbeiterin des Pflegedienstes die Leiche der 87jährigen in der Badewanne. Bei der Obduktion wird festgestellt, dass sie ertrunken ist. Am Kopf: Zwei Einblutungen. Sofort fällt der Verdacht auf den Hausmeister. Er habe die Frau bestohlen, zweimal auf den Kopf geschlagen und ertränkt. Die Ermittler scheinen sich ihrer Sache sehr schnell sehr sicher. Den Eindruck hat damals jedenfalls Genditzkis Chef in der Wohnanlage. 

Albert Schmaus: “Ich hab’ dann mit der Polizei [...] telefoniert [u.a. wgn. der Schlüssel zum Haus der Toten] und da hat mir ein Kriminalbeamter gesagt, ich muss mir einen neuen Hausmeister suchen, weil DER kommt nicht mehr raus. Das hat der so wörtlich gesagt. Damals, schon am 1. Tag als er abgeholt worden ist.”

Genditzki ist der letzte, der Frau Kortüm lebend gesehen hat. Bei Licht betrachtet, ist das der einzige Umstand, der ihn verdächtig macht. Es gibt keine DNA im Bad, keine Tatwaffe, kein Motiv – nichts.

Vieles spricht dafür, dass die gebrechliche Frau gestürzt ist. Auch der Gerichtsmediziner (Wolfgang Eisenmenger, Rechtsmedizin) vermutet zunächst einen Unfall, doch nach einer Tatortbegehung mit der Polizei kommt er plötzlich zu einem anderen Schluss. Die Blutergüsse am Kopf seien durch Gewalt entstanden.

Regina Rick: “Plötzlich ist aus dem Haushaltsunfall ein Mord geworden, und das ist natürlich skandalös! Ein Gutachter darf nicht sein Gutachten anpassen an die Erwartungen der Ermittlungsbehörden.”

Das Gutachten wird anerkannt. Und als sich der Verdacht, Genditzki habe das Opfer bestohlen, nicht beweisen lässt, spricht die Anklage plötzlich von einem Streit als Mordgrund. Die Motivsuche – fast wahllos. Das Urteil: lebenslänglich. Weggesperrt aus dem Leben. Getrennt von der Familie. Alles, was in den nächsten dreizehneinhalb Jahren passieren wird, geschieht ohne Manfred Genditzki. In seiner Zelle muss er allein klarkommen, geplagt von Schulden durch den Prozess und großer Verzweiflung angesichts seiner Ausweglosigkeit.

Manfred Genditzki: “Ich hatte Wut, ja! Und wenn Sie dann noch eine Rechnung kriegen von 84.000,00 €, dann haben Sie zweimal Wut! [...]”

[Abschnitt über die zurückgelassene Ehefrau, ihre Nöte und Sorgen, die ungewohnte alleinige Verantwortung für die Kinder; die Frau war damals gerade erst wieder schwanger; sie litt unter dem Verlust ihres Mannes und weinte täglich. Besonders schlimm: Während der Haftzeit verlor Manfred Genditzki seine Mutter. Insgesamt war er 13 Jahre, 23 Wochen und 6 Tage eingesperrt.]

Nach dem ersten Urteil legt Genditzkis damaliger Anwalt Revision ein – mit Erfolg. 2012 kommt es zu einer zweiten Verhandlung am Landgericht München. Doch auch dieser Prozess endet mit einer Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Haft. 

Dass Genditzki Frau Kortüm bestehlen wollte, ließ sich zwar schon beim ersten Mal nicht beweisen, denn das Geld war ja noch da. Also wurde erneut das Ersatzmotiv präsentiert: Streitlust statt Geldgier. Für die Beobachter eine Farce.

Hans Holzhaider, Gerichtsreporter: “Der Staatsanwalt (Florian Gliwitzky) hat einfach ein anderes Motiv aus dem Hut gezaubert, er hat gesagt, Frau Kortüm sei zornig gewesen, weil Herr Genditzki sich geweigert habe, am Nachmittag noch zu ihr zum Kaffeetrinken zu kommen, mit seiner Familie. Darüber sei wiederum Herr Genditzki wütend geworden und habe im Zorn, im Streit, Frau Kortüm mit irgendwas auf den Kopf geschlagen, sodass sie ohnmächtig geworden sei, und er habe dann, um diese Körperverletzung zu verdecken, sich entschlossen, sie zu ertränken. Dafür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Das ist eine reine Spekulation. Der Staatsanwalt hat sich das einfach ausgedacht, weil er in Not war, irgendein Motiv zu entdecken.”

Regina Rick: “Dieser Streit ist eine Erfindung der Justiz. Für diesen Streit gibt es nicht den leisesten Anhaltspunkt – keine lauten Stimmen, nichts.“

Die Version der Verteidigung sieht anders aus. Sie geht davon aus, dass die körperlich geschwächte Lieselotte Kortüm gestürzt sei, als sie ihre Schmutzwäsche, mitgebracht aus dem Krankenhaus, in der Badewanne einweichen wollte. 

Ein Geschehen, das die Richterkammer (LG München II, 4. Strafkammer, Az.: 2 Ks 31 Js 40341/08) kategorisch ausschließt, Zitat: “Zur Überzeugung der Kammer steht vielmehr fest, dass die Frau Kortüm Wäsche nie in der Badewanne, sondern allenfalls in der Waschschüssel eingeweicht hat.” 

Woher diese Annahme stammt – ein Rätsel. Einmalig abwegig dürfte auch eine andere Behauptung sein: Regina Rick: “Das Gericht hatte ausgeschlossen, dass die 87jährige Frau Kortüm gestürzt sein kann unter anderem deswegen, weil sie, obwohl sie eine bekannte Sturzvorgeschichte hatte, in den letzten Wochen vor ihrem Tod nicht gestürzt sei. Und deswegen hat es eben ausgeschlossen, dass sie an diesem Tag gestürzt sein kann. Glaubt man kaum, aber ist so!”

Während der zweiten Verhandlung hat Manfred Genditzki von Anfang an kein gutes Gefühl. Es kommt ihm so vor, als müsse nicht das Gericht seine Schuld, sondern er selbst seine Unschuld beweisen. 

Manfred Genditzki: “Da haben wir so viele Sachen aufgedeckt [...] das hat keinen interessiert. [...] Ich hab’s gespürt, dass ich wieder verurteilt werde. Und als ich dann reingekommen bin und dann sitzen da zig Polizeibeamte, dann wird keiner freigesprochen, dann werden Sie verurteilt – nochmal!”

  Und tatsächlich passiert, was sonst niemand für möglich gehalten hat. Genditzkis Tochter ist dabei, als am Münchener Landgericht offenbar Unrecht gesprochen wird. 

Cindy von R.: “[...] Und da hat die (Petra Beckers, Richterin) diese Urteilsbegründung vorgelesen, die hat gestottert, die hat mit so einer leisen Stimme ihre Urteilsbegründung vorgelesen und Ewigkeiten gebraucht [...] ich: das glaubt sie doch selber nicht, was sie da liest!”

Lebenslänglich eingesperrt, für einen Mord, der vermutlich keiner war. Zum zweiten Mal verurteilt für eine Tat, die Genditzki nicht gestanden hat, weil er sie nie begangen hat. Der Alptraum im Alptraum.

Regina Rick: “Der Herr Genditzki hat in all den Jahren, in denen er saß, als Nichtgeständiger nicht mal auf den Sportplatz gehen dürfen. [...]”

[Abschnitt über einen Brief Manfred Genditzkis an die Spiegel TV Redaktion.]

Regina Rick ist Genditzkis zweite Verteidigerin. Sie übernimmt das Mandat nach vier Jahren Haftzeit und glaubt von Anfang an nicht an einen Mord. Akribisch macht sie sich auf die Suche nach neuen Beweisen für einen Unfalltod von Frau Kortüm und beauftragt die Universität Stuttgart mit einer Computersimulation. Darin wird nachgewiesen, dass die Verletzungen sehr wohl von einem Sturz kommen können. Das Modell der Toten schlägt zweimal mit dem Kopf auf, kommt genau so zum liegen wie die Leiche. Und es meldet sich eine Zeugin mit einem wichtigen Hinweis. Sie kannte die Verstorbene, wurde durch einen Medienbericht auf den angeblichen Mord aufmerksam. 

Christiane Eyssele (leider inzw. verstorben): “Da hab’ ich gedacht, das kann ja wohl nicht wahr sein, dass durch eine kleine Marotte, die die Frau Kortüm hatte, ein Mordfall draus wird. [Spiegel TV: Welche Marotte hatte sie?] Ja, das war die Marotte, dass sie alles eingeweicht hat, was zum Waschen war, egal ob es hinterher in die Waschmaschine kam oder zur Reinigung ging – sie hat immer alles von Hand zuerst selber ausgewaschen.” 

Die Bekannte erinnert sich auch gut daran, dass Frau Kortüm häufiger aus heiterem Himmel kurz ohnmächtig wurde, und danach stürzte [...].

Die neue Zeugin hat sogar miterlebt, wie die Rentnerin eines Tages aus Versehen in ihre eigene Badewanne gefallen ist [Beschreibung des Sturzgeschehens in die Badewanne, mit voller Kleidung am Körper].

Für einen häuslichen Unfall spricht noch ein weiterer Beweis, das thermodynamische Gutachten. Mit Hilfe einer Analyse der gemessenen Wassertemperatur, konnte dadurch der Todeszeitpunkt nachträglich festgelegt werden. Demnach war Genditzki gar nicht mehr im Haus, als die alte Dame verstarb [...].

  Vor drei Jahren stellt Genditzkis Anwältin schließlich einen Wiederaufnahmeantrag, unterstützt durch die neuen Beweise, die alle darauf hindeuten, dass ihr Mandant zu Unrecht einsitzt. Doch das Landgericht München lehnt ab.

[Abschnitt mit der Erklärung des Hamburger Strafverteidigers Gerhard Strate, dass sich die Strafjustiz generell vehement gegen den Versuch wehr, ein altes Urteil anzugreifen.]

Doch dann der Kurswechsel. Ende vergangenen Jahres (2021) entscheidet das Oberlandesgericht München, dass das Landgericht die neuen Beweise doch anhören muss. Eine späte Einsicht, und eine längst überfällige Entscheidung, Zitat: “Mit der Anordnung der Wiederaufnahme ist die Grundlage für die weitere Vollstreckung der vom Tatgericht verhängten Strafe entfallen. Das Gericht hat daher die Freilassung angeordnet.”

Angeklagt aufgrund von Vermutungen. Verurteilt aus Mangel an Beweisen. Lebenslang, weil die Justiz sich offenbar geirrt hat und nicht die Courage hatte, das zuzugeben. 4912 Tage musste Manfred Genditzki deshalb in Haft verbringen. Dreizehneinhalb Jahre seines Lebens, die ihm genommen wurden. Jetzt hat ihn das Gericht freigelassen, aber freigesprochen wurde er nicht, denn die Staatsanwaltschaft will Genditzki erneut anklagen, in derselben Sache. 

Regina Rick: “Deswegen kommt es jetzt zu einer neuen Hauptverhandlung, wieder mit zahlreichen Verhandlungstagen, mit zahlreichen Zeugen, mit diesen ganzen Sachverständigen, die bisher schon gehört worden sind. Welche Haltung die Staatsanwaltschaft da einnehmen wird, kann man sich vorstellen – aber verstehen kann man es nicht!”

Ihr Mandant wird sich also ein drittes Mal vor einem deutschen Strafgericht verantworten müssen. Sollte der Prozess so ausgehen, wie die letzten zwei Male, hat seine Anwältin aber schon einen Plan.

Regina Rick: “Dann habe ich wieder die Revision, und wenn die schiefgeht, dann habe ich eine Verfassungsbeschwerde-Möglichkeit, und wenn die schiefgeht, dann bleibt mir der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Aber eins ist sicher: der Herr Genditzki gibt nie auf, und ich auch nicht.”

Jeder Tag in Freiheit ist ein guter Tag. 

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Prozessbeginn ist Mittwoch, der 26. April 2023 vor der 1. Strafkammer des Landgerichts München I unter dem Vorsitz der Richterin Elisabeth Ehrl.
Reportagen:

SWR Doku#1
SWR Doku#2
SWR Doku#3

Die Reihe des Südwest-Rundfunks ist sehr sehenswert.